Zürich ist ein wildes Pflaster

16. Juni 2015 - Carolin Fügener

„Amygdala. Vollständige Fragmente einer unvollständigen Stadt“ ist der Titel des Stücks, das momentan vom WildWuchs Theater aufgeführt wird. An diesem Abend ist eine ganz besondere Vorstellung: Lukas Bärfuss, Autor des Stückes und diesjähriger Inhaber der Bamberger Poetikprofessur, ist selbst anwesend und steht dem Publikum für ein Autorengespräch zur Verfügung. Die Aufführung seiner Stücke betrachtet er als ein „öffentliches Korrekturlesen“, und so entspann sich auch nach dem Stück noch eine interessante Diskussionsrunde.

Bereits der Untertitel „Vollständige Fragmente einer unvollständigen Stadt“ lässt darauf schließen, dass Amygdala kein Theaterstück mit abgeschlossener Handlung ist, sondern mehrere bruchstückhafte Handlungsstränge einander abwechseln. So unterschiedlich die Handlungsverläufe sind, so fließend gehen die Szenen ineinander über. Die Schauspieler schaffen es mühelos, das Publikum innerhalb von Sekunden von einem Forschungszentrum in einen Puff und schließlich auf einen Flughafen zu versetzen.

Aaron, ein renommierter Gehirnforscher, versucht zwei Probanden zu überreden, an seinem Experiment teilzunehmen, und hat dabei mehr oder weniger Erfolg. Die Probanden geraten mit jedem Anlauf wieder an ihre Grenzen und verlassen das Experiment – bis sie beim nächsten Versuch zähneknirschend wieder zurückkommen. Szenen, in denen Aaron am Züricher Flughafen auf eine Koryphäe seines Faches wartet, gewähren Einblick in sein Inneres, wo ein etwas zu starkes Selbstbewusstsein im Konflikt mit Momenten der Unsicherheit steht. Doch nicht nur sein Selbstbewusstsein, auch seine Vorfreude auf den hochgeachteten Hirnforscher bekommt einige Kratzer, während er seinen Besucher beherbergt. Ließ Aaron während seiner Vorbereitung keine Möglichkeit aus, seinen Besucher auf ein Podest zu stellen, wird er von der Realität schnell eingeholt. Zwar ist der Wissenschaftler genial – aber geniale Gäste haben auch ihren Preis. In diesem Fall sind Aaron die Essenswünsche des Besuches eher suspekt, dessen Freizeitwünsche zu anstrengend und seine Arbeitsmoral schlafraubend.

Im Puff wiederum offenbart sich Aarons Unsicherheit besonders deutlich, wo das Treffen zwischen ihm und der Prostituierten Lilli nicht über etwas Smalltalk hinauskommt. Doch während in der einen Szene noch ein tiefsinniges Gespräch über Fussel an allen möglichen Körperteilen geführt wird, berichtet kurz darauf in einem anderen Setting eine Frau monologhaft über ein wildes Tier, dem sie in der Natur nicht weit von ihrem Haus entfernt begegnet ist. Wirkt sie anfänglich eher verwirrt, steigern sich ihre Emotionen in wütende Schuldzuweisungen gegenüber den Leuten, die ihr nicht glauben. Ihre Erzählungen gleiten schließlich immer mehr vom ursprünglichen Thema ab und gewähren Einblicke in ihre Wahrnehmung des spießigen Alltags in einem gehobenen Züricher Vorort.

Unterdessen versuchen die beiden Probanden neben mehreren erfolglosen Anläufen im erwähnten Experiment anderweitig an Geld zu kommen. Dazu hecken sie einen ausgeklügelten Plan aus, der eine lokale Drogendealerin um die Ecke und ihnen das große Geld bringen soll. Dabei erscheinen die beiden Männer geradezu sympathisch putzig, da sich ein Großteil ihrer Planung um die Unterkunft von einem halben Dutzend Katzen dreht. Mit einer Eisenstange und viel Pökelsalz wird der Plan schließlich zur Ausführung gebracht, nur das gewünschte Geld taucht dabei nicht auf…

Lukas Bärfuss, der Schweizer Autor des Stückes, hat die Szenerien aus der Wirklichkeit nachgeschrieben. Den Überfall auf die Drogendealerin gab es im realen Leben, auch die Experimentreihe hat stattgefunden. Das Theater, erklärt Bärfuss, sei eine primitive, weil ursprüngliche Form der Kunst. Hier lenkt nichts ab, es gibt keine Spielerei, keine Fiktion und keine Intimität auf der Bühne. So gab es auf der kleinen Bühne im Palais auch keinen Vorhang und keine Pausen. Die Zuschauer erlebten live mit, wie sich die einzige weibliche Schauspielerin von Lilli in Clara und die Drogendealerin verwandelte, wie die kleine Bühne nur durch ein Sofa oder drei Stühle einen völlig neuen Raum bot. Die Ausstattung der Bühne war also ebenso bruchstückhaft wie die Inhalte der verschiedenen Szenen. Beides ließ den Zuschauern viel Platz für ihre eigene Interpretation der vielschichtigen Handlungsstränge. In dem Autorengespräch fügte Lukas Bärfuss noch an: Die Aufgabe des Theaters ist es, die Leute auf den rechten Weg zu bringen – damit sie sich dann verirren können.

 

Mit Bianca Eberle, Florian Berndt, Johannes Leichtmann und Benjamin Mangelsdorf

Regie: Frederic Heisig

Bühnenbild: Sebastian Stahl

Kostüm: Lena Lorang

 

Weitere Termine:

27. und 28. Juni, 2. und 3. Juli | Einlass 19:45 Uhr, Beginn 20:00 Uhr | Kasernstr. 1, 96049 Bamberg

Kartenvorverkauf in der Buchhandlung Colibri, im Palais, BVD Bamberg

 

Bild: WildWuchs Theater

Text: Jörg Welker und Carolin Fügener

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