Eine Reise zu den Quellen des digitalen Wandels
Das ETA-Hoffmann Theater zeigt als Uraufführung Robert Woelfls „Überfluss Wüste“ – und nimmt seine Zuschauer mit in das Herz der Digitalisierung.
Nahe des Silicon Valley, in der Wüste von Nevada, klafft ein kurzer, aber sehr tiefer Riss in der Erde. Er ist auf keiner Karte eingezeichnet und es gibt keinen allgemein bekannten Weg dorthin, dennoch sind die „Quellen der Unsterblichkeit“, als welche dieser Riss auch bezeichnet wird, ein viel aufgesuchtes Ziel. Denn wer diese Quellen erreicht, der hat einen Wunsch frei. Vier junge Programmierer mit überragenden kognitiven Fähigkeiten treffen an diesem Ort aufeinander. Sie erhoffen sich etwas Besonderes, Einzigartiges von diesen „Quellen“, an denen alle großen Revolutionäre der digitalen Welt gestanden und ihre brillanten Einfälle gehabt haben sollen. Was bei den globalen Berühmtheiten der Programmierer-Zunft funktioniert hat, muss doch auch bei ihnen funktionieren?
„Warum steht hier kein Schild?“
Allerdings gewinnen die einzelnen Charaktere und ihre Geschichten schnell an größerer Bedeutung als der nächste digitale Fortschritt. Zoe (Corinna Pohlmann) hat mit ihrem Leben abgeschlossen und will sich durch Suizid als autonomes Wesen beweisen, bevor die Vorhersage ihrer selbst geschriebenen KI zur Realität wird und die Welt untergeht; Josh (Marcel Zuschlag) ist mit seinen Empfindungen für Zoe überfordert und sucht krampfhaft eine logisch herleitbare Antwort auf die Frage „Ja oder Nein?“ nachdem sein eigens dafür entwickeltes Programm ihn im Stich gelassen hat; Sebastian und Finn (Paul Maximilian Pira und Eric Wehlan) aus Stuttgart sehen die deutsche Autoindustrie, für welche sie arbeiten, von der Überholspur abrutschen und nur ein genialer, visionärer Einfall für das Auto der Zukunft ihrerseits kann sie noch retten.
„Ohne Team bist du nichts, das Team ist alles.“
Sie alle kommen aus derselben Branche, könnten sich helfen, einander ergänzen. Stattdessen, das wird schon mit den ersten Sätzen klar, scheitern sie an der normalerweise simplen Form zwischenmenschlicher Kommunikation. „San Francisco ist das Zentrum der Zivilisation. Und der Schizophrenie“, sagt Josh und verweist damit auf eine dystopische Aussicht, die bereits ihre Schatten auf unsere heutige Zeit wirft. In einer Gesellschaft, in der soziale Interaktion immer mehr von breiter Digitalisierung ersetzt wird, Arbeitnehmer ihr ganzes (Be-)Streben dem Unternehmensgeist ihrer Arbeitgeber unterordnen und das Individuum im Schwarz der Masse verschwindet, vereinsamt und egozentriert sich der Mensch. Wie er im Zuge dieses Prozesses zu kommunizieren, zu sprechen verlernt, illustriert der Text von „Überfluss Wüste“ künstlerisch genial durch ewige Anaphern und Wortwiederholungen, Monologe, die vom Thema abkommen, und Dialoge, die aneinander vorbeireden, weil jeder nur noch sich selbst sehen kann. In einer Welt, die emotional abgestumpft ist, sind besonders Zoe und Josh hin und her gerissen zwischen dem ursprünglichen Sehnen nach menschlichem Kontakt und der von der Gesellschaft anerzogenen Unfähigkeit, ebenjenen wirklich zuzulassen.
„Ich empfinde nichts für dich, du kannst wieder gehen.“
Wie baut man nun das Setting für eine solche Geschichte? Anstatt die Studiobühne, auch „Black Box“ genannt, des ETA-Hoffmann-Theaters mit realistischen Mitteln wie Sand oder Geröll plastisch in die Wüste Nevadas zu verwandeln, hat sich das Regieteam für eine abstrakte und minimalistische Implikation jener entschieden, die sowohl dem gesprochenen Wort der Schauspieler, als auch der Vorstellungskraft des Zuschauers großen Raum bietet. Der zu Beginn von Zoe mit gelbem Kreidestift gezeichnete Riss fungiert dabei sowohl als Ausgangspunkt, als auch als Konstante. Es ist den Programmierern unmöglich, tatenlos auf einer Stelle zu stehen und auf das erhoffte Besondere zu warten, weswegen ihr strikt lösungsorientierter Aktionismus sich im Verlauf des Stücks vielfältig als physikalische und rätselhafte „Einritzungen“ (ebenfalls mit gelbem Kreidestift gezeichnet) an der implizierten Felswand – den schwarzen Wänden der Studiobühne - manifestiert. Was genau sie dabei rechnen oder denken, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen.
Generell bietet der 90-minütige Theaterabend von Daniel Kunze in seiner relativen Kürze und Kompaktheit eine Fülle an Denkanstößen, die mit ihrer Brisanz und Aktualität den Zuschauer zum Nachdenken anregen, über die Zukunft der digitalen Welt und den Menschen darin. Eine gelungene, sehr zu empfehlende Inszenierung!
Darüber hinaus bestand im Anschluss an die Vorstellung am 18.10.2018 die Möglichkeit, im Rahmen des ersten Theaterstammtisches der Spielzeit in gemütlicher Runde zusammen mit den Schauspielern und Dramaturgieassistentin Fr. Weich über das Stück zu reflektieren und den Abend ausklingen zu lassen. Kultur- und Theaterinteressierten ist diese alternative Form der Abendgestaltung ebenfalls nur ans Herz zu legen!